Schon oft bin ich gefragt worden, woher denn meine Protagonisten kommen, wie ich meine Charaktere finde und wie zudem meine Ideen für den Plot?
Nun, mein heutiger Tag ist ein sehr gutes Beispiel für Anregung und Charakterfindung. Darüber hinaus waren meine Stunden in Polanco, dem Viertel hier in México-City, wo ich mich aufhalte, voller Gedankensortierung und Eingebungen. Wollen wir hoffen, dass ich auch bald dazu komme, sie umzusetzen.
Sitze also nach einer arbeitsamen Nacht (elfeinhalb Stunden Flug nach México) an einem meiner freien Tage im Café und genieße seit langem mal wieder mehrere bewusste tiefe Atemzüge (seit Wochen habe ich immer wieder den Eindruck, dass ich manchmal gar nicht atme, weil ich nicht dazu komme) inmitten des sehr schönen und grünen Viertels Polanco. Da ich noch immer dabei bin, meine wohnliche Situation in Europa zu sortieren und in einem relativen Chaos lebe, kommt es mir sehr zupass innezuhalten.
Polanco ist ein ziemlich gehobenes Viertel im Vergleich zu den allermeisten anderen Gegenden Méxicos und es ist faszinierend und erschreckend zugleich, wie stark sich die sozialen Schichten hier abzeichnen. Und schon rücken auch die Charaktere ins Bild: Der dicke Geschäftsmann, der sich kaum in seinem Sessel des Cafés, in dem er Platz genommen hat, bewegen kann und mühevoll eine Zigarre anzündet, während ein sehr armer und ausgemergelter Schuhputzer ihm die Slipper poliert und zwei gelangweilte und aufgetakelte Damen dabeisitzen und den Putzenden nicht eines Blickes würdigen. Einem Gitarre spielenden Studenten, der versucht einige Münzen zu verdienen, wird an beinahe allen Tischen mit Ignoranz und Arroganz begegnet. Es ist schwer mitanzusehen, wie Menschen sich gegenseitig nicht beachten. Ein Vierertisch, an dem eine an sich wirklich hübsche schlanke Frau mit Freunden sitzt, die ihr geschmackvolles Äußeres zerstört, indem sie eine unfassbare Überheblichkeit in ihre Ausstrahlung legt, die geradezu abstoßend erscheint, rückt in mein Blickfeld. Dahinter hockt in einer recht ungesunden Körperhaltung ein nervöser Kreativer, der sich gewiss nicht oft einen Kaffee leistet, es aber dennoch tut, weil er es liebt. Recht braun gegerbte Haut, sehr lange schwarze Haare – jedoch pink gefärbt – die er zu einer Palme heraufgebunden hat. An seinem Tisch befinden sich zwei blutjunge Mädels, die ihn bewundern und mit ihm schwatzen.
Schon diese drei, der zigarrenrauchende Mann, die überhebliche Schöne und der abgetakelte aber interessante Kreative, bieten eine Vielzahl von Möglichkeiten, sie in einem meiner Bücher einzusetzen.
Ich fühle mich beflügelt und bin ein wenig enttäuscht, noch nicht wirklich in mein aktuelles Projekt eingetaucht zu sein. Doch erste Anzeichen erhellen den Schreibergeist und der heutige Tag treibt mich an.
Das lässt hoffen, denke ich. Und male mir aus, wie es wieder wird, wenn ich ein geregeltes Zuhause habe und meine Energien nicht mit Suchen, Packen, Reisen, Einrichten und Renovieren verbringen muss.
Mit herzlichen Grüßen aus México
O. E. Wendt